Die Erzählung „Das wirkliche Blau“ beschreibt die Not des mexikanischen Töpfers Benito in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Benito verkauft sein Geschirr am Mercado von Mexiko-Stadt, und seine Kunden kaufen nur bei ihm, weil sie das tiefe, einmalig schöne Blau seiner Muster schätzen.
Doch plötzlich kann er die Farbe – vermutlich ein Kobalt-Oxid – nicht mehr beschaffen: Im Krieg unterliegt der deutsche Konzern, der dieses ganz besondere Blau produziert, dem Handelsembargo der alliierten Mächte gegen Nazi-Deutschland. Benitos Händler bietet ihm andere Farbtöne an, doch der lehnt ab, denn seine Kundschaft will nur dieses Blau und „nicht irgendeins, das man nur Blau nennt, weil kein anderer Name bereit ist, man nennt es Blau, aber das Herz geht einem dabei nicht auf.“ In der Erzählung aus dem Jahre 1967 reflektiert Anna Seghers (1900 – 1983) ihre Jahre im mexikanischen Exil.
Die Drehscheiben waren längst abgestellt. Die letzten Tortillas, der Rest vom vorigen Abend, waren trocken und spröde. Doch wurden sie gründlich und langsam zernagt von den Alten und von den Kindern. Sie legten sich auf die Matten. Die Kleinen schliefen bald ein. Die Alten waren kummerstumm. Benito, der Vater, blieb aufrecht auf der Erde im Dunkeln sitzen. (...)
Was sollte er nur tun mit all den Kindern, eignen und fremden, mit der eignen Frau und der Frau seines Schwagers? Er hatte sich eingesetzt für jene Familie, als der Schwager auf und davon war. Der war ertrunken in Schulden, der hatte nicht aus noch ein gewusst, da war er eben weg, da hatte der sich gedacht, man wird ihnen helfen, wenn ich bloß nicht mehr hier bin. Und wirklich, Benito hatte geholfen. Er konnte aber jetzt unmöglich dasselbe tun, was sein Schwager getan hatte, einfach weggehen.
Was aber würde mit seiner Familie geschehen? Er hing an seinem Blau, als ob es sein Schicksal wäre. Und es war wohl auch sein Schicksal. Er musste es aufstöbern. Man findet schließlich, was einem gehört. (...)
Es war so still, dass man hinter der Wand das Maultier im Schlaf schnaufen hörte. Benito starrte ins Dunkle. Auf einmal scharrte es an der Tür, es wartete, und es scharrte noch einmal. Benito öffnete einen Spalt. Ihm funkelten unwiderstehlich scharfe grünliche Augenlichter entgegen. Das Huckepack auf dem Kopf – es ragte spitz gegen die Sterne. Jetzt waren die Augen deutlich in dem gefälteten Gesicht, so klug und so alt wie die Sterne. Er sagte: „Oh, Tante Eusebia, du!“
Benito weckte sofort seine Frau. „Steh auf. Mach Feuer.“ Er fügte hinzu: „Sie hat zum Glück schon alles bereit für morgen. – Ja, auch die Eier!“ befahl er. Die Frau sah ihn ängstlich an. Denn mit den paar Eiern hätte man sich versorgen können.
Gleich blinkte unter dem Vordach ein kleines Holzfeuer. Die alte Eusebia wärmte sich ihre Hände. Sie hatte den Korb abgestellt. Tortillaklatschen minutenlang in der Nacht. Bevor noch Benito gestanden hatte, es fehle ihm an Pulque, hatte die Tante aus ihrem Sack die eigne Flasche herausgezogen. Nachdem Luísa aus allem, was sie besaß, ein Mahl für den Gast bereitet hatte, legte sie sich zurück auf die Matte.
Mit ihren uralten grüngelben Sternenaugen hatte die Tante Eusebia, obwohl sie nur zusah, wie man ihr die Tortillas buk, alles bemerkt. Die Frau so vergrämt. Benito nicht mehr so hartstolz wie ehemals. Und auch nichts zum Füllen der Tortillas, bis auf den roten Pfeffer. Und diese Eier waren die letzten.
Sie saß mit dem Hausherren vor dem Haus. Sie sprach zuerst von sich selbst, um Benito zu ermuntern. Sie sei unterwegs nach San Blas. Der Apotheker brauche dreimal im Jahr ihr Kraut. Das sei schwierig zu finden und nur bei ihr. Sie kaufe sich für den Verdienst auf dem Markt, was sie an Stoff brauche, Bohnen und Tabak.
Sie unterbrach ihren Bericht, als Benito seinen eigenen begann, erstaunlich schnell, als seien ihm die letzten Minuten gegeben, sich von unerträglicher Last zu befreien; er stand bis zum Hals im Missgeschick.
Nachdem Eusebia nachgedacht hatte, erwiderte sie: „Mein Sohn“ – denn wenn auch Benito selbst Söhne hatte, er war und blieb der älteste Sohn dieser Familie, ob er ihr Großenkel war oder ihr Großneffe – , „mein Sohn, du hast doch den krummen Rubén gekannt, den mit dem kurzen Bein von Geburt an, der hat es zu etwas gebracht gegen alle Voraussicht. Jetzt ist er ein Capataz, etwas wie ein Aufseher in einem Bergwerk, das weit von uns weg liegt. Noch weiter, viel weiter als die Stadt Mexiko. Ich glaube, es liegt in Durango. Er war aber bei uns, als sein Großvater starb.
Und an dein Blau, Benito, mein Sohn, kann ich mich ausgezeichnet erinnern. Es gibt kein ähnliches. Kein Wunder, dass all deine Kunden darauf versessen sind. Wenn ihnen Teller und Töpfe zerbrechen, dann wollen sie zur Ergänzung nicht irgendeins, das man nur Blau nennt, weil kein anderer Name bereit ist, man nennt es Blau, aber das Herz geht einem dabei nicht auf, das haben deine Kunden gespürt, ohne zu wissen, was sie spüren. Ich aber, ich weiß es, es wird einem ganz besonders zumute, wenn man es vor sich hat.
Und dieser Rubén, als er des langen und breiten von der glücklichen Wendung in seinem Leben erzählte, er hat uns ein Pulver gezeigt, einen Beutel voll trug er in seiner Tasche, das war der Farbstoff, den du brauchst, das war dein Blau, ich kann darauf schwören.
Er hat nämlich festgestellt, mit seiner Vernunft, die noch gewachsen ist, weil sein Bein nicht gewachsen ist, dass irgendein Ausschuss von dem Zeug, nach dem sie dort gruben, in dem Bergwerk, wo er den Aufseher macht, einen seltsamen Farbstoff ergibt, sofern man ihn mahlt und röstet, und eben davon brachte er eine Probe. Sie haben den Abfall für wertlos gehalten und haben ihn auf die Halden geschmissen, auf die Halden des Bergwerks, ich meine, es ist ein Silberbergwerk. Ich glaube, diese Probe trägt er immer mit sich, weil sie ihm Glück bringt. Er hat einen kleinen Vetter, flink, langbeinig, den hatte er zuerst untergebracht im Bergwerk, aber der Kleine, ich meine, er heißt Lorenzo, der schleppt ihm stets von der Halde diese Art Schutt nach Hause. Sie haben ihn dann gemahlen und geröstet, wie, weiß ich selbst nicht, ich weiß nur, dass sie Käufer gefunden haben in einigen Städten. Aber die Städte sind arg weit weg. Ich rate dir aber, fahre zu diesem Rubén. Wenn er´s bis zu uns geschafft hat, warum sollst du es nicht bis zu ihm schaffen? Warum soll sein kleiner Vetter Lorenzo dir, der du der Älteste bist in der Familie, nicht etwas billig lassen? Warum soll das Blau, um das du dich grämst, in fremden Städten vertan sein? Also, ich rate dir, fahre zu diesem Bergwerk, besser morgen als übermorgen.“
Benito dachte vor sich hin, aber die Tante funkelte mit ihren bösen und guten Augen. Es war, als würde der Himmel funkeln mit zwei besonderen Sternen. Und sie sagte: „Wozu denkst du? Dieser Händler in der Gasse am Markt, der kann dir nicht verschaffen, was du brauchst. Erwarte es nicht von ihm. Vertu deine Zeit nicht. Verschaffe es dir selbst.“
„Ja“, sagte Benito, „du hast wohl recht, Tante Eusebia, und nun leg dich auf unsere Matte.“ „Nein, nein“, sagte Eusebia. „Ich muss jetzt weiter. Solange die Sonne nicht beißt. Mein Sohn, auf Wiedersehen. Ja, wir sehen uns wieder auf deinem Rückweg. Es gibt in San Blas, wohin ich jetzt gehen muss, eine Bahn, mit der kannst du tief ins Land. Und du fragst unterwegs, und einer, der mit dir fährt, wird wissen, wo dieses Bergwerk liegt. Nicht weit von San Mateo. Es gehört den González, wenn ich mich recht erinnere. Rubén sagte nämlich, die seien auf Silber so wild, darum nennt man sie Silber-González, dass niemand sich mehr um die Schutthalden kümmert. Nur dein Vetter Rubén, der fand heraus, was darin steckt.“
Sie lud ihren Korb auf. Sie bedankte sich für die Gastfreundschaft. Und auch für das große, ihr geschenkte Vertrauen. Benito bedanke sich für den Besuch und auch für den vorzüglichen Rat. Es war ihm leichter ums Herz. Er legte sich schlafen.